Seit 1735 in Kasseler Besitz tritt das eher kleinformatige Ölgemälde nun in der Sonderausstellung der Staatsgalerie Stuttgart »Becoming famous – Peter Paul Rubens« (22. Oktober 2021 – 20. Februar 2022) als Glanzstück der Präsentation auf. Nicht nur seine ungewöhnliche Komposition und das fantastische Spiel mit Licht und Schatten prädestinieren das Werk dafür, sondern auch die Tatsache, dass es sich um eines der wenigen datierten und signierten Werke des Barockmeisters hält.
Ein Brief Peter Paul Rubens nach dem Tod Adam Elsheimers im Dezember 1610, in welchem er dessen „Flucht nach Ägypten“ erwähnt, führte zur Annahme, die Kasseler Tafel stünde in engster Verbindung zu besagter Kupferplatte, die sich heute in München in der Alten Pinakothek befindet (Inv. Nr. 216). Wenngleich es sich bei beiden um eindrucksvolle Nachtstücke handelt, so zeigt Rubens die Szene doch in ganz anderer Weise. Gerade das Verhältnis von Figuren- und Naturdarstellung fällt bei Rubens deutlich zugunsten der Heiligen Familie und ihren himmlischen Begleitern aus. Es handelt sich keinesfalls um ein direktes Zitat.
Auch von anderen Künstlern und deren stilistischen Besonderheiten hat Rubens sich inspirieren lassen. Eine große Bandbreite wurde ihm durch sein stetes Reisen, sei es als Künstlerreise oder im Rahmen eines diplomatischen Auftrages, mit Sicherheit geboten. Aus seiner Zeit in Italien war er mit den Meister südlich der Alpen bestens vertraut. So ging er nach Abschluss seiner Malerausbildung 1600 nach Mantua, wo er als Hofmaler des Herzogs Vincenzo Gonzaga angestellt wurde. In den acht Jahre studierte er die dortige Malerei sowie in anderen Städten wie Rom genau. So zeugt die „Flucht aus Ägypten“ von Studien der Werke Caravaggios, betrachtet man die Figuren und ihre dramatische Inszenierung einmal genau. Aber das heißt keinesfalls, dass Rubens seine Kollegen kopierte. Vielmehr sammelte er die vielfältigen Eindrücke und verband sie mit seinen eigenen Vorstellungen in neuen Kompositionen: So konnte er einerseits sein Wissen um den ‚state of the art’ präsentieren und gleichzeitig seine Neuinvention als Verbesserung des Vorherigen inszenieren und sein individuelles Können hervorheben.
Für die Stuttgarter Ausstellung hat das Werk also mehrfachen Wert: Neben der grundsätzlichen Qualität, werden anhand der Tafel Rubens Strategien zur Inszenierung des eigenen Talents sichtbar, die durch Signatur und Datierung besonders eindrücklich vor Auge geführt werden.