Jeder neue Karton ist wie ein Geschenk – Ein Einblick in das Projekt zur Digitalisierung der modernen Graphik

Unter ihrer Online-Datenbank hat die Museumslandschaft Hessen-Kassel bisher insgesamt 53.765 ihrer Objekte virtuell zugänglich gemacht – Tendenz stetig steigend. Solche online-Datenbanken geben Kunstinteressierten die Möglichkeit, sich schnell und bequem vom heimischen Rechner aus über die Bestände der MHK zu informieren, Lieblingsstücke zu Hause anzuschauen und auch Kunstwerke kennenzulernen, die normalerweise im Depot schlummern. Sie stellen außerdem ein mittlerweile unverzichtbares Instrument für Forschende auf der ganzen Welt dar.

Seit Juni 2021 werden die Bestände moderner und zeitgenössischer Gemälde und Graphik in der Graphischen Sammlung und der Neuen Galerie digitalisiert und systematisch in der Datenbank veröffentlicht. Hierzu müssen Datensätze mit wissenschaftlichen Informationen gefüttert, Bildrechte angefragt und nicht zuletzt qualitativ hochwertige, hochauflösende Abbildungen der Kunstwerke angefertigt werden. Druckgraphik und Zeichnungen werden dafür von studentischen Hilfskräften auf einem Spezialscanner eingescannt. Zwei dieser Hilfskräfte sind Shao-Min Sun und Lina Mackensen, die beide Kunstgeschichte im Master an der Universität Göttingen studieren. Für die Arbeit im Digitalisierungsprojekt pendeln sie neben dem Studium jede Woche nach Kassel, wo sie in der Regel sieben Stunden am Tag Originalgraphik einscannen. Die Graphiken sind alphabetisch nach Künstlern geordnet und werden in sogenannten Graphikkapseln, bzw. Graphikkartons, gelagert, die ihnen nach und nach zum Scannen bereitgestellt werden. Lina und Shao-Min geben in unserem heutigen Blogbeitrag einen kleinen Einblick in ihre Arbeit:

Die studentischen Hilfskräfte sind Shao-Min Sun und Lina Mackensen vor dem Spezialscanner

Habt ihr vor der Tätigkeit in Kassel schon mit Museumsdatenbanken gearbeitet?

Shao-Min: Ich habe schon an der Religionskundlichen Sammlung in Marburg gearbeitet und dort geholfen, Objekte in die Datenbank einzugeben. In Göttingen habe ich dann Kurse zur Digitalisierung besucht und weitere Museumsdatenbanken kennengelernt.

Lina: Im Studium nutzt man ja sowieso selbstverständlich die Datenbanken von Museen für Referate und Hausarbeiten. Besonders dafür, dass man die Abbildungen benutzen kann, bin ich sehr dankbar.

Worauf kommt es für euch bei einer guten Abbildung an?

Lina: Die Auflösung muss natürlich gut sein und die Darstellung muss möglichst gerade und ausgewogen positioniert werden. Das Ausrichten der Graphik auf dem Scanner ist manchmal schwierig, weil die Bilder oft schief auf das Blatt gedruckt sind. Manchmal hat man auch Werke, die wegen ihrer Materialität eine Herausforderung für den Scanner darstellen, zum Beispiel wenn Oberflächen stark glänzen. Es gibt doch immer wieder widerspenstige Objekte, die nicht gut abgebildet werden können.

Wie viele Scans schafft ihr so am Tag?

Shao-Min: Am Anfang waren wir langsamer, am ersten Tag haben wir zu zweit 66 Scans gemacht. Mittlerweile haben wir uns verdoppelt. Wenn es gut geht schaffe ich alleine 70 bis 80 Scans, zu zweit 140 oder 150.

Und wie sieht so ein typischer Arbeitstag bei euch aus?

Lina: Ich will jetzt nicht sagen monoton, aber… [lacht]. Also generell entwickelt man schnell eine Routine.

Shao-Min: Und ab und zu kommen dann besondere Momente oder Objekte. Bei jeder neuen Grafikkapsel ist es, als würde man ein Geschenk auspacken, so unterschiedlich sind die Objekte, die in einem Karton sind.

Sind euch denn Werke begegnet, die euch besonders in Erinnerung geblieben sind?

Lina: Es ist immer cool, wenn man es plötzlich mit einem total großen Namen zu tun hat. Neulich habe ich zum Beispiel Graphik von Picasso eingescannt.

Shao-Min: Ich mag die Arbeiten von Paul Baum sehr gern!

Und wie ist es für euch, so unmittelbar mit den Originalen zu arbeiten?

Lina: Das ist schon toll, wirklich die Kunstwerke in die Hand nehmen zu können. Es ist wirklich etwas Besonderes, so nah an die Originale heranzukommen und den sicheren Umgang mit ihnen zu lernen. Ganz am Anfang hatte ich richtig Angst, die Objekte anzufassen, aber mittlerweile habe ich ein viel besseres Gefühl für den Umgang mit originalen Kunstwerken.

Hat sich durch eure Arbeit in Kassel euer Blick auf Museumsdatenbanken verändert?

Shao-Min: Vorher bin ich selbstverständlich davon ausgegangen, dass es Museumsdatenbanken gibt und die ganzen Informationen einfach vollständig zugänglich gemacht werden. Aber nun ist alles plötzlich viel komplexer. Manche Informationen verändern sich oder sind noch ungesichert. Man merkt schon, ob ein Museum Geld in seine Datenbanken steckt oder nicht.

Lina: Genau! Da merkt man schon viele Qualitätsunterschiede. Dadurch, dass wir selbst Graphik einscannen, weiß ich jetzt gute Abbildungen in einer Museumsdatenbank viel mehr zu schätzen. Es ist verdammt viel Arbeit, aber es ist eben auch verdammt wichtig!

Wir danken Shao-Min und Lina herzlich für das Gespräch.


Damals wie heute? Weihnachten im Laufe der Jahrhunderte

Auch dieses Jahr präsentiert die Gemäldegalerie Alte Meister in Schloss Wilhelmshöhe pünktlich zur beginnenden Adventszeit das Weihnachtsbild von Nikolaus Hoffmann. Das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandene Bild ist eine der ältesten Darstellungen des Weihnachtsfestes, so wie wir es kennen. So zeigt es nicht nur eine heimelige Festtagsszene, sondern stellt gleichzeitig ein historisches Dokument dar.

Nikolaus Hoffmann, Weihnachtsbescherung, 1760–1770, MHK

Schauen wir uns nämlich die Szene einmal genauer an, so ist unschwer erkennbar, dass diverse Festtraditionen schon damals in Gebrauch waren. Dies gilt ganz besonders für den mit Kerzen, Früchten und einer Statuette geschmückten Tannenbaum, der hinter dem Tisch in der Stube aufgestellt ist. Der konkrete Ursprung des Weihnachtsbaumes ist bis heute nicht gänzlich geklärt, jedoch finden sich verschiedene Quellen, die mehrere Jahrhunderte zurückreichen. Der heidnische Brauch, sich zur Wintersonnenwende immergrüne Zweige ins Haus zu holen, um den Wintergeist zu vertreiben, ist dabei ein Glied in der Kette, die zu unserem heutigen Weihnachtsbaum führt. So wurden aber auch im christlichen Kontext zuvor Nadelbäume rege verwendet: Zur Inszenierung biblischer Szenen verwendete man sie als Paradiesbaum und hängte einen Apfel als Frucht der Erkenntnis daran. Der ein oder andere wird hier vielleicht schon an den heimischen Weihnachtsbaum erinnert. Im 19. Jahrhundert setzte sich dieser Brauch schließlich in den privaten Haushalten durch. Eine Krippe finden wir zwar nicht auf dem Bild, allerdings soll die Familienkonstellation im Hintergrund doch recht deutlich Assoziationen mit der Heilige Familie hervorrufen.

Doch nicht nur der Schmuck, auch die Geschenke für die braven Kinder sind in Hoffmanns Weihnachtsbild aufgenommen. Hier ist es allerdings nicht der Weihnachtsmann mit Elfen und Rentieren, sondern das Christkind, welches mit seinem buckeligen Knecht Ruprecht große Augen aber auch Tränen hervorruft, wie vorne rechts zu sehen ist. Jedenfalls scheinen hier noch keine Lieferengpässe das „Glück der Weihnacht“ in Gefahr gebracht zu haben, schaut man einmal auf den reich bestückten Gabentisch mit Spielzeug.

Wie wir dieses Jahr Weihnachten feiern, steht bekanntlich ja wieder einmal in den Sternen. Wer noch nach den richtigen Geschenken sucht, sollte einiges vielleicht von der Liste streichen: Neben Fahrrädern und Smartphones sind ebenfalls Sneakers auf der Liste der Raritäten. Einem ruhigen Zusammensein in den eigenen Vier Wänden wird dies aber auch nicht im Wege stehen und wie uns Hoffmanns Szene zeigt, kann im Notfall auch ein Apfel über eventuelle Tränen der Enttäuschung hinwegtrösten.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski zum 200. Geburtstag

„Aber der wahre Bruder Dostojewskis durch die Zeiten ist Rembrandt“ schrieb Stefan Zweig vor 100 Jahren und brachte damit den großen russischen Schriftsteller mit dem nicht minder berühmten Künstler des niederländischen 17. Jahrhunderts in Zusammenhang. Die Werke beider Künstler erfreuen sich bis heute ungebrochener Beliebtheit, gerade in Deutschland, obwohl sie als Menschen eher schwierig waren. Das Verbindende für Zweig war vor allem der Umgang mit Licht und Schatten und so führte er weiter über Dostojewski aus: „In seine Romane tritt man ein wie in ein dunkles Zimmer. Man sieht nur Umrisse, hört undeutliche Stimmen, ohne recht zu fühlen, wem sie zugehören. Erst allmählich gewöhnt sich, schärft sich das Auge: wie auf den Rembrandtschen Gemälden beginnt aus einer tiefen Dämmerung das feine seelische Fluidum in den Menschen zu strahlen.“

In keinem Land außerhalb Russlands lebte der Schriftsteller so lange wie in Deutschland. Ob Dostojewski jedoch jemals in Kassel war, ist nicht bekannt. Wenn ja, dann hätte er auf einen Doppelgänger treffen können, einen „wahren Bruder“. Rembrandts „Büste eines kahlköpfigen alten Mannes“ mutet fast wie ein Zwilling von Perovs Porträt Dostojewskis an.

Rembrandts Gemälde entstand 1632 in Rembrandts Werkstatt und zeigt exemplarisch seine Behandlung von Licht und Schatten. Der Kopf ist vornüber geneigt, so dass der Blick auf den kahlen Schädel fällt. Nur dünnes Haar bedeckt die Schläfen oberhalb der Ohren. Wenig ist von dem dunklen Gewand zu erkennen, das vor der Brust geschlossen ist. Allein den Kopf trifft ein helles Licht von links oben, selbst der Hintergrund ist in einem neutralen dunklen Ton gehalten. Auf der belichteten Seite fällt das dunkle Auge des Alten besonders auf, während das andere im Schatten verschwimmt. In ähnlicher Pose, den Blick nach unten gerichtet, tritt uns Dostojewski gegenüber. Perovs Gemälde entstand 240 Jahre später und gilt heute als das beste Porträt des Schriftstellers. Beide Gemälde sind in ihrer Art ungewöhnlich, sie zeigen in erster Linie den Menschen. Für Stefan Zweig war dies der Kern ihres Schaffens: „Je mehr man in die Tiefe der Bilder Rembrandts, der Bücher Dostojewskis blickt, sieht man das letzte Geheimnis der weltlichen und geistigen Formen sich entringen: Allmenschlichkeit.“

Поздравления Федора Михайловича / Herzlichen Glückwunsch Fjodor Michailowitsch