Die Türen der Neuen Galerie sind wieder geöffnet und eine neue Sonderausstellung lädt zu einer stilvollen Zeitreise ein. Wir haben einen Blick hineingeworfen. Der achteckige elektrische AEG-Wasserkessel empfängt uns kunstvoll verformt auf der Eingangswand der Ausstellung. Denn dort, irgendwo zwischen Kunst und Ware, zeigt sich der Kern des Jugendstils: Ziel und Ansporn der Künstler war es, die menschliche Lebensumwelt ästhetisch zu gestalten – von der Architektur bis zum Haushaltsgegenstand.
Die Reformbewegungen gingen Ende des 19. Jahrhunderts von England aus und unterschieden sich von Land zu Land. Vor allem durch Zeitschriften, Plakate und unabhängige Ausstellungen abseits des etablierten Kunstbetriebes verbreiteten und beeinflussten sich die modernen Entwürfe. In der Sonderausstellung angekommen, können wir an einer sogenannten »Galerie der Straße« entlangschlendern und die Plakatkunst der 1890er Jahre auf uns wirken lassen.
In der Ausstellung tauchen wir in die alltägliche Lebenswelt der Menschen ein. Auch im Deutschen Kaiserreich wurde der Jugendstil schnell populär. Weil Gestaltung mit einem praktischen Nutzen verbunden wurde, zog die Kunst bald aus den Galerien in die Haushalte, Geschäfte und Arbeitsplätze ein.
Das aufstrebende Bürgertum gewann an wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung und fand im Jugendstil eine Ausdrucksform, die Funktionalität mit dem Wunsch nach Repräsentation verband. Die Entwürfe erfüllten hohe ästhetische Ansprüche, benötigten aber keine großen Räume. So konnte auch das mittlere Bürgertum, das in Stadtwohnungen und nicht in Villen oder Landhäusern wohnte, seinen Haushalt angemessen ausstatten.
Mit ihrem hohen Qualitätsanspruch wollten sich die Jugendstil-Künstler explizit von Konsumkultur und standardisierter Ware abgrenzen. Hier zeichnet sich jedoch das Dilemma der Reformbewegung ab: Das Kunsthandwerk blieb kostspielig und erreichte nur wohlhabende Käuferschichten. Sobald sich aber die Kunstindustrie bemühte, die neuen Entwürfe massenhaft zu reproduzieren, konnte sie dem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden.
Fließende Linien, florale Elemente und geometrische Formen – die Natur ist im Jugendstil Vorbild und Stilmittel zugleich. Immer wieder tauchen die Gestaltungselemente in reduzierter Form auf Geschirr, Besteck, Vasen oder Möbeln auf. Die Hersteller von Massenprodukten erkannten schnell das Potential des Jugendstils und nutzten die charakteristischen Formen als Dekor. Dies führte letztlich zu einem Ausverkauf der Idee und zum frühen Niedergang der Reformbewegung.
23. Mai–13. September 2020
»Moderne für Jedermann. Kunst und Ware im Jugendstil.«
Sonderausstellung in der Neuen Galerie